Eine Geschichte aus dem verschwundenen Dorf Zervreila
Zervreila war eine Maiensäss-Siedlung, 1800 Meter über Meer, oberhalb der Gemeinde Vals gelegen. Heute befindet sich dort ein Stausee. Die herrliche Welt von Zervreila ist nur noch Erinnerung.
Die Erinnerung von Alois Gartmann aus Vals, geboren 1925, nacherzählt von Lotty Wohlwend, im Magazin Active Life
Bilder: Rudolf Zinggeler (1864 – 1954), aufgenommen 1911.
Dort auf Zervreila half ich ihm, den Tieren das im Sommer eingebrachte Heu zu verfüttern. Als 6-jähriger Knabe durfte ich im Dezember zu meinem Grossvater, Wir nannten ihn Ena. Ein Tag blieb mir dabei ganz besonders lebendig in Erinnerung: Um ein Haar hätte ich das 300-jährige Haus angezündet. Dies, obwohl mir mehrfach eingeschärft worden war, dass ich keine Zündhölzer in die Hand nehmen dürfe. Mein Grossvater war ein leidenschaftlicher Pfeifenraucher, und somit war eine gewisse Gefahr vorhanden.
Mein Vater und ein Nachbar gingen an jenem Morgen in den Wald. Der Abschiedsgruss für den Kleinen war wie immer: »Je net äppe züsle!» Was so viel hiess wie: Ja keine Zündhölzer in die Hand nehmen. Mir wurde es mit der Zeit langweilig, so allein in der grossen Stube, immer nur mit denselben paar wenigen von Hand geschnitzten Kühen zu spielen. Da gab es doch noch viel Spannenderes! Ich sass am Stubentisch, vor mir die Tischschublade, wo unter anderem die verbotenen Zündhölzli lagen. Ich öffnete die Schublade vorsichtig und entdeckte Grossvaters Raucherutensilien. Und da lagen sie, diese magischen Zündhölzli. Und schwupps war die Schublade auch schon wieder zu, schön brav, wie es sich gehörte.
In der grossen Stube gab es neben der Stubentüre hinter einem schweren Vorhang ein Bett. Auf diesem Strohbett lag eine alte Decke mit Fransen, und diese Fransen schauten keck hinter dem Vorhang hervor. Und da war er, dieser verflixte Moment! Ich wollte ja nur die unnötigen Fransen weghaben. Zu diesem Zwecke aber brauchte ich doch wirklich diese magischen Zündhölzli. Ich hatte mir fest vorgenommen, nur dieses unnötige Zeugs an der Decke wegzubrennen und die Zündhölzli dann schön brav wieder zu versorgen.
Zwei Löcher in der Decke
Gesagt, getan. Doch alles kam ganz anders als ich dachte. Schon bald musste ich all meine Kraft aufwenden, um dem Feuer Herr zu werden. Aussichtslos. Das Bett stand sofort in Flammen und die Stube war mit Rauch gefüllt. In meiner grossen Not wollte ich den Ena rufen. Doch der stand schon da. In der Stubendecke waren zwei Löcher eingelassen. Zum Glück stieg so die Wärme der Stube auch in die darüber gelegene Kammer (Spycher).
Durch diese Löcher konnte man auch eine Schaukel – eine so genannte Wäägi – aufhängen. Im Sommer eine willkommene Abwechslung, wenn man bei schlechtem Wetter nicht ins Freie durfte, dann sass ich jeweils in der Stube und schaukelte. Und genau durch diese Löcher wurde Ena beim Rasieren aufgeschreckt.
Nun begann für ihn eine mühsame und gefährliche Löscharbeit. Er packte den in der Küche stehenden Wasserkessel und schickte mich mit einem leeren Eimerli zum Bach hinunter. Ich musste also eine steile Steintreppe hinunter und aus dem fliessenden Bach Löschwasser holen. Er dachte sich wohl, auch kleine Wassermengen würden zum Löscherfolg beitragen.
Als ich zurückkam, war der Brand schon gelöscht. Mir ist es bis heute ein Rätsel, wie Ena diesen «Vollbrand» in der Stube so rasch unter Kontrolle brachte. Das konnte nur «von oben» geschehen sein. Zum Mittagessen kamen Vater und der Nachbar nach Hause. Auf den Knien meines Vaters musste ich mein Vergehen büssen.
Gegen Abend ging ich wie gewohnt zum Stall, wo Vater bereits die Tiere fütterte. Der Weg führte an einem Restaurant vorbei. Die Wirtin stand unter der Tür und fragte, nicht ohne Spott, ob das Mittagessen heiss genug gewesen sei. Ich antwortete brav mit Ja, spürte aber den Spott in ihrer Stimme und rannte wie der Blitz in den Stall. Mehr Fragen wollte ich mir von der Frau nicht stel- len lassen.
Den vom wilden Rhein angeschwemmten Sand benutzten wir zum Spielen und Formen, auf dem Weg zur Viehweide konnten wir uns an den vielen kleinen «Rossnägeln» ergötzen und beobachteten sie Tag für Tag, wie sie immer mehr ihre langen Schwänze verloren und zu kleinen Fröschen heranwuchsen. Beinahe vergassen wir, dass wir eigentlich zum Viehhüten unterwegs waren.
Wir zäunten die Rossnägel in ihrem Gewässer ein und bauten uns Fröschlifarmen; jeder wollte die schönste und grösste haben. Doch je grösser diese Tiere wurden, umso rascher ergriffen sie die Flucht und wir standen bald einmal da mit unseren leeren «Farmen». Ein Glück für unser geduldiges Vieh, es kam wieder etwas rascher aus dem Stall auf die saftigen Weiden.
Die Kühe weideten wir hier oben auf saftigen Kräuterweiden, die herrliche Milch wurde zu feinster Butter und feinstem Käse verarbeitet. Im August wurde das Heu eingebracht. Heu, das den langen, harten Winter hindurch nicht nur für unsere Kühe, sondern auch für die sieben Galte (Jungvieh), zehn Geissen und ebenso viele Schafe, reichen musste.So schön und wunderbar der Sommer war, so hart war der Winter.
Erst wurden in Zervreila die Tiere versorgt
Ich erinnere mich, dass einmal zwei Brüder, 24- und 28-jährig, mit einem Schlittengespann, gezogen von zwei Rindern, zu uns unterwegs waren. Sie rechneten mit einer Marschdauer von rund drei Stunden. Doch schon bald begann es zu schneien und sie kamen nur noch schwer vorwärts. Sie hatten nach rund fünf Stunden Marsch erst etwas mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt, da erreichten sie total erschöpft den Weiler.
Die Tiere legten sich sofort auf den Boden, sie wollten im ersten Moment weder Wasser noch Futter, nur noch Ruhe. Für die beiden jungen Männer aber gab es noch keine Pause. Sie schaufelten eine Gasse durch den tiefen Schnee zum nahe gelegenen Bach, um Wasser für die Tiere zu holen. Erst als die Tiere versorgt waren, setzten sich die jungen Männer und bekamen nun etwas Warmes vorgesetzt.
Am nächsten Morgen war ihnen ein sonniger frostiger Tag beschieden. Das mit Eisblumen beschlagene Fenster gab die Sicht nach draussen nicht frei. Es war so kalt, dass auch der «Botschamber» unter dem Bett seine Flüssigkeit erst am Mittag zum Kippen freigab. Die jungen Männer hatten, um die Tiere auf ihrem harten Weg durch den Schneesturm etwas zu schonen, sie vom Schlitten erlöst und das Gefährt im Wald stehen lassen.
Mit Schaufeln und vereinten Kräften aus der Nachbarschaft holten die Männer zusammen mit den geduldigen Tieren den Schlitten wieder heim. Es war eine gefährliche Route. In dieser Zeit kam ein junger Mann mit seinem Gespann in eine Lawine. Das Tier konnte sich befreien und fand den Weg allein zum Hof. Welch grosses Entsetzen für den Bauern, der das Tier damals in Empfang nahm! Die Leiche des jungen Mannes gab der Schnee erst im Frühjahr wieder frei.
Streng war der Herbst auf Zervreil
Doch auch der Herbst zeigte sich manchmal unerbittlich und streng. Nach tagelangen schweren Regenfällen wälzte sich eine riesige Wassermasse durch das Tal, zerstörte Brücken und Ställe. Nur ein Teil des angebundenen Viehs konnte gerettet werden. Das Wasser riss durch die zehn Kilometer lange Schlucht alles mit, was nicht niet- und nagel-fest war. Der Flur- und Gebäudeschaden war riesig, vor allem in den Jahren 1868 und 1927.
1935 war es, anfangs September. Ich erinnere mich, wie der Regen niederprasselte. Nachts mussten mein Bruder und ich abwechslungsweise am Stubenfenster sitzen und das Wasser im Valserrhein beobachten. Wir sahen jeweils, wenn der Blitz kurz aufleuchtete, für einen Moment die Wehrmauer und konnten so ungefähr den Wasserstand erahnen. Wäre das Wasser noch höher angestiegen, hätten wir alle Bewohner des Hauses wecken müssen, damit sie das Haus noch rechzeitig hätten verlassen können. Zu diesem Szenario kam es zum Glück dann doch nicht.
Oktober 1941: Mein Kamerad Philipp Schmid und ich begaben uns um sechs Uhr in der Früh in die «Etzmäder», um das Vieh zu füttern. Auf dem Weg sahen wir in der Dämmerung hoch oben an den Felsen einen riesigen Ballon hängen. Auf dem Heimweg – es war mittlerweile Tag geworden – war der Ballon spurlos verschwunden. Monate später, an einem Abend im Frühling, machte ich mich wieder auf den Weg Richtung «Etzmäder» , um die Kühe zu melken. Da kamen mir mein jüngerer Bruder Franz und der Nachbarsbub Josef Berni entgegen und hielten mir strahlend sechs kleine Glasfläschchen vors Gesicht. Freudestrahlend riefen sie: «Wir haben Orangina gefunden!»
Eine Flasche voll Phosphor
Mir wurde klar, dass dieser grosse Ballon, den ich im Herbst gesehen hatte, diese Fläschchen verloren haben musste und die Buben sie nun entdeckt hatten. Ich war sechs Jahre älter als mein kleiner Bruder und mein bereits etwas «erweiterter Horizont» liess mich vorsichtig sein. Ich nahm den Buben die Fläschchen aus der Hand. Was wohl drin war?
Irgendwie musste ich die Gefahr, die in diesen kleinen Glasfläschchen lauerte, erkannt haben, noch auf dem Heimweg warf ich sie in die kleine, nahe gelegene Schlucht. Durch den Aufprall zerschlug das Glas und der Inhalt floss brennend übers Wasser. Wie ich später erfuhr, musste in diesen Fläschchen Phosphor gewesen sein!
Die Flüssigkeit, aber auch der Rauch, hatten eine ungeheure Zerstörungswirkung! Der Rauch hatte meine Hose erwischt, die sich an diesen Stellen sofort auflöste. Was von der Hose noch übrig blieb, zog ich sofort aus und warf es weg. Ich hatte grosse Angst davor, dass mir sogar die Haut verbrannt würde. Man darf sich nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn die beiden kleinen Buben die Fläschchen zerschlagen hätten oder wenn sie gar versucht hätten, das «Orangina» zu trinken.
Sie wären bei lebendigem Leibe verbrannt. Das Phosphor war kriegstechnisch wohl dafür bestimmt gewesen, Wohngebiete oder Wälder in Brand zu stecken und zu vernichten. Kommt weisser Phosphor mit Sauerstoff in Kontakt, brennt er und entwickelt Temperaturen von mehr als 1000 Grad! Brennendes Phosphor kann mit Wasser nicht gelöscht werden.
1975 – viele Jahre später
Als die beiden Schulferienwochen vorbei waren, fuhr ich zu unserem Ferienhaus in Zervreila, um meine Frau und unsere kleinen Kinder Luzia, Pia, Peter und Markus abzuholen. Es war Freitag, 4. April 1975.
Ich war mit dem Auto unterwegs. Immer wieder musste ich aussteigen und den Weg zur Tobelbrücke freischaufeln. Durch den an- haltenden Schneefall war die Strasse nach Zervreila stellenweise verschüttet. Mit grosser Mühe erreichte ich das Haus. Es schneite weiter, Tag und Nacht, das ganze Wochenende hindurch. Die Schneemassen türmten sich bereits auf beängstigende drei Meter! Die Zervreilastrasse war zu und das Werkpersonal machte sich nicht einmal mehr die Mühe, die Strasse zu räumen. Wir waren isoliert. Ein Glück, dass unsere Freunde, Familie Rüedi, bei uns wohnten. Wir sprachen uns Mut zu.
Bereits am Samstagabend hatten wir Männer einen ersten Versuch gewagt, aus dem «eisigen Gefängnis» zu entfliehen. Wir hatten unseren Skis Felle übergezogen und versuchten, das zehn Gehminuten höher gelegene Restaurant zu erreichen. Im Ried hatten wir noch kein Telefon und wir wollten unbedingt nach Vals hinunter telefonieren. Wir sanken aber bis zu den Hüften im Neuschnee ein und mussten unser Vorhaben aufgeben. Noch immer liess der Schneefall nicht nach und weitere 70 Zentimeter fielen. Die Nacht glich einer Ewigkeit. Immer wieder wurden wir aus dem Schlaf gerissen, weil das Knistern und Knarren im Dachgebälk uns Ängste einflösste. Das Dach hätte jederzeit unter dieser gewaltigen Schneelast einstürzen können.
Eingeschneit!
Am Sonntagmorgen, um halb acht, als ich hi-ter dem Haus stand und die obere Wohnung im ersten Stock betreten wollte, sauste eine Staublawine (die «Witi-Tobel-Lawine») ins Tal hinunter und erfasste das Haus seitwärts. Der Hauseingang zur unteren im Erdgeschoss gelegenen Wohnung war weiss «gepflastert» – ich hatte noch einmal Glück gehabt. Nach dem Morgenessen wartete Schwerstarbeit auf uns. Wir hatten vor, auf Biegen und Brechen das nahe Restaurant zu erreichen. Wie Maulwürfe gruben wir uns durch die endlos scheinende Schneemauer und endlich, nach vier harten Stunden, hatten wir es geschafft!
Im Restaurant lebte nur noch meine Schwägerin Agnes, zusammen mit ihrem Hund. Wir waren glücklich, als wir merkten, dass ihr Telefon noch funktionierte. Hier glaubten wir uns in Sicherheit. Doch weit gefehlt, auch hier machte uns das Knarren im Dachstock Sorgen. Konnte das Dach, auf dem noch schwere Steinplatten lagen, diese Schneemassen wirklich tragen? Und wenn ja, für wie lange noch?
Endlich, der Montag brachte helles, sonniges Wetter. Und dieses Wetter gab uns die Möglichkeit, uns umzusehen. Nach einem mühsamen Aufstieg zur Staumauer entdeckten wir mit Schrecken, dass sich auf der Guraletschseite eine riesige, etwa 100 Meter breite Lawinenspur direkt vom Wissgrätli zum See hinzog. Diese Lawine riss drei Ferienhäuser mit in den See, zwei ältere und ein ganz neues Haus. Was für gewaltige Naturkräfte! Für uns war klar, dass wir keine Nacht mehr im Restaurant bleiben wollten. Wir mussten raus aus diesem Schneekessel!
Ein Landeplatz für den Heli
Wir fassten den Entschluss, die folgende Nacht auf der Staumauer in einer mit Decken gefütterten Schneehöhle zu übernachten. Wir begannen mit der Arbeit, schleppten genügend Essvorräte und Decken hoch. Die Kinder sollten warm haben und vor allem nicht Hunger leiden. Alles war oben, da erreichte uns im Restaurant der telefonische Bescheid, man wolle uns mit einem Helikopter aus unserem weissen Gefängnis fliegen. Nun begannen wir mit vereinten, aber auch mit letzten Kräften, mitten auf der Staumauer einen Landeplatz zu stampfen.
Dann kam der Helikopter, landete und nahm uns auf. Die Rettung aus der Luft brachte uns in nur 4 Minuten auf den Dorfplatz von Vals, wo uns die besorgten Dorfbewohner in rührender Verbundenheit in Empfang nahmen.
Nach und nach erfuhren wir, wie es anderen in diesen Tagen ergangen war: Ein junger Bauer hatte beim Füttern seines Viehes sein Leben lassen müssen, eine Lawine hatte ihn und mit ihm vierzehn Stück Grossvieh begraben. Zwei Wohnhäuser in Dorfkernnähe, die aber zu diesem Zeitpunkt leer waren, wurden total zerstört. Die Strasse nach Ilanz war während mehr als einer Woche gesperrt, die Strasse wurde von mehreren Lawinenniedergängen mehrfach verschüttet.
Das Dorf Vals konnte während dieser Zeit nur noch mit dem Helikopter erreicht und versorgt werden. Trotz pausenlosem Einsatz der Helikopter konnte unsere Familie erst sechs Tage später ausgeflogen werden. Wir wollten zurück nach Chur, wo wir daheim waren und die Arbeit, beziehungsweise die Schule, wieder auf uns wartete.
Dank der grossartigen Organisation der Behörden in Vals konnte Schlimmeres verhindert werden. Die Rettungsorganisation hatte in vielen Regionen rechtzeitig zur Evakuation aufgerufen, einzelne Gebiete waren vorsorglich gesperrt worden. Für mich war nach diesem Abenteuer klar: Unser Ferienhaus «Im Ried» in Zervreila musste ein Telefon haben.
Natur und Schicksal sind eng verflochten
Natur und Schicksal sind hier in diesem Tal eng miteinander verflochten und schlagen dem Menschen oft tiefe Wunden. Je härter der Heilungsprozess, umso stärker die Verbundenheit zur Scholle und aus diesem Lebenskampf heraus erwächst das einzige für den Menschen bedeutende Wort – Heimat.
Heute, wenn ich über das Tal schaue, liegt hier ein Stausee und meine Gedanken wan- dern zurück zu diesem Stück Heimat, das ich für immer verloren habe. Heimat, das sind eindrückliche Momente, aber auch hart überstandene Zeiten.